Ulrike Cress

„Wie bitte, denken Sie Frau Cress?“

Form A: "Wie bitte denken Sie?“, fragen wir heute Ulrike Cress. Ulrike Cress ist seit 2017 Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM) und W3-Professorin an der Eberhard Karls Universität Tübingen im Fachbereich Psychologie. Mit ihrer Arbeitsgruppe Wissenskonstruktion am IWM beschäftigt sie sich mit sozial- und kognitionspsychologischen Prozessen, die bei der gemeinsamen Konstruktion und Nutzung von Wissen relevant sind. Frau Cress, Sie beobachten das Denken professionell. Wie beeinflusst diese Tätigkeit Ihr eigenes Denken? Verleitet der Beruf zur stetigen Selbstbeobachtung? Hält man sich beim Denken immer den Spiegel vor?

Ulrike Cress: Eigentlich gar nicht. Für mich ist es eher so, dass die Wissenschaft mir ein Stück weit bewusstmacht, wie ich denke. Aber nicht in einem negativen Sinne, dass es ein Spiegel ist, der einengt. Sondern in dem Sinne, dass ich mir bewusster bin, dass Denken ein Prozess ist, der Arbeit bedeutet. Denken ist für mich immer etwas, das mit Konstruieren zu tun hat – etwas Bedeutung geben. Schon die Wahrnehmung, schon das Sehen ist ja ein Denkakt: Die wissenschaftliche Beschäftigung bringt einem diese Prozesse näher, macht einem bewusster, was die Konstruktionsakte sind. Und das finde ich spannend: dass eigentlich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Denken nicht mehr so richtig zu trennen ist von dem, was man tagtäglich macht, nämlich dass man denkt. Gegenstand und Tätigkeit fließen zusammen. Das finde ich extrem spannend.

Form A: Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen zur Psychologie, zum Denken? Hat Sie das Denken immer besonders interessiert?

Ulrike Cress: Also was mich interessiert hat in diesem Denkprozess, nach dem Studium, jetzt in der Forschung, war die Frage: Wie denkt die Masse? Ich war sehr angetan von dem, was man mit Wikipedia erlebt. Nämlich, dass da Tausende, Millionen von Personen gemeinsam etwas tun. Eigentlich würde man erwarten, jeder macht irgendetwas und das führt zum Chaos, führt zum gegenseitigen Löschen. Und was eigentlich passiert in Wikipedia ist, dass irgendwie doch etwas Emergentes, etwas Positives zustande kommt. Und das fand ich sehr spannend, weil Denken ja eigentlich ein individueller Prozess ist, der weniger zielgerichtet ist – das passiert so. Und dass man in dieser Wikipediawelt erleben kann: wenn viele Personen gemeinsam ihr Denken ausrichten auf etwas, dann entsteht etwas, was nicht nur das Sammeln ist, sondern was gemeinsam eine neue Qualität hat. Und das fand ich extrem spannend.

Form A: Für viele Menschen dürfte es kaum eine Trennung zwischen Selbsterfahrung und eigenem Denken geben. Man ist, was man denkt. Descartes hat daraus den berühmten Satz gemacht: Cogito, ergo sum – also es eigentlich zur letzten Gewissheit für sich selbst erklärt, dass man denkt. In Ihrer Forschung hingegen betonen Sie den Konstruktcharakter des Denkens. Führt das nicht zur Verunsicherung, wenn man eigentlich sich dieses Denkens ja anscheinend doch nicht so ganz gewiss sein kann oder was ist die Gewissheit, die man da hat?

Ulrike Cress: Gewissheit, dass alles dynamisch ist, das heißt, dass das Konstrukt immer Konstrukt bleibt, vielleicht immer besser wird, vielleicht immer differenzierter wird. Aber man hat die Wahrheit nie, man ist immer auf dem Weg, man kann sich auch ein falsches Konstrukt erbauen. Und ich finde, das entspricht dem Menschsein, zu sagen: "Ja, ich habe nicht die Erkenntnis, sondern ich versuche, meine Welt zu verstehen.“ Und dieses Verständnis ist in manchen Bereichen tiefer, in manchen weniger tief. Und sich auch bewusst zu sein, na ja, das kann sich verändern. Das, was ich heute für richtig halte, kann morgen falsch sein. Und das ist etwas, was für mich den Menschen auszeichnet – also diese Cogito-ergo-sum-Idee – aber auch, was die Wissenschaft auszeichnet. Zu sagen, auch die Wissenschaft weiß, dass sie sich irren kann oder dass sie sich entwickelt und dass es keine endgültigen Wahrheiten gibt. Und das verbinde ich sehr stark mit diesem Konstruktivismus. Zu sagen, es gibt nicht die Wahrheit außerhalb, sondern es gibt immer Konstrukte, die man sich zusammenbaut – als Mensch aufgrund seines Vorwissens, aufgrund seiner Einstellung, seiner Emotion – was auch immer. Und Denken heißt zu versuchen, dieses Konstrukt noch besser zu machen, adaptiv quasi an die Umwelt, an die Erfahrungen, zu machen. Das ist ein Prozess, der dynamisch ist und damit auch spannend ist. Wohin gelangt man mit seinen Konstrukten, wie weit kann man gehen?

Form A: Wenn Sie diesen Akt als Konstruktion beschreiben, wie bringt man diese einzelnen Elemente des Denkens zusammen, bei der Massenkollaboration, aber auch in einer übergeordneten Identität? Wie fühlt sich das für Sie selber an? Ist es nicht immer so, wenn Sie von Konstruktcharakter sprechen, man kann ja auch sagen, man hat viele Stimmen im Kopf, dass man irgendwie als "viele" erscheint. Wie kann man das Ganze zusammenführen, wieder integrieren?

Ulrike Cress: Also "Denkakt" wäre für mich schon, aus dieser Stimme der Vielen, auch im eigenen Kopf, eine Linie herauszuschälen. Also zu sagen: Denken ist nicht nur: "Ich habe Assoziationen.“ Die habe ich auch im Traum, und die habe ich quasi auch ohne Bewusstsein. Denken heißt, die Assoziationen irgendwie zu ordnen, in eine lineare Abfolge zu bekommen oder in eine Geschichte, in etwas, was man kommunizieren kann. Das heißt, der Denkakt wäre für mich nicht, dass irgendwelche Assoziationen geweckt sind – vielen Stimmen im Kopf, das wäre für mich noch kein Denken – sondern, dass ich daraus eine Argumentationsstruktur mache oder eine Klarheit schaffe, die dann kommunizierbar wird. Und wenn sie kommunizierbar wird, dann kann ich quasi dieses individuelle Konstrukt auch abgleichen mit anderen oder kann ich Eindrücke bekommen von außen, die dieses Konstrukthafte ein Stück weit in Frage stellen.
Und für das Konstrukthafte ist für mich immer auch wichtig zu sagen: "Als Psychologin – auch als normaler Mensch – weiß man um die Fehlbarkeit von Denken, dass Denken eigentlich immer um sich kreist. Dass Denken etwas ist, wo man sich selber bestätigt, wo man die eigenen Vorurteile, das eigene Vorwissen eigentlich immer gebraucht. Dieses Denken muss irgendwann in Sprache gebracht werden, um kommunizierbar zu sein und sich dann im Dialog ein Stück weit verändern kann, sich ein Stück weit abgleichen kann. Also mich hat sehr diese systemische Perspektive geprägt, zu sagen, der Mensch ist ein kognitives System, das um sich selbst kreist, das autopoietisch ist – ein Gedanken bringt den nächsten hervor und der nächste bringt wieder den übernächsten hervor. Also ein System, das sich so selber generiert und das aber eigentlich sehr zirkulär ist, sehr in sich kreist. Und zu sagen, na ja, wir brauchen eine Art von Kommunikation, wir brauchen eine Art von Begegnung mit anderen, von Irritationen, dass man aus diesem Selbstkreisen herauskommt und dann einen Weg findet, um neue Dinge anzuerkennen, neue Dinge zu entdecken in der Welt.

Form A: Verläuft da vielleicht auch die Grenze zwischen produktivem und pathologischem Denken. Also das pathologische Denken vielleicht gerade eben im Sinne dieses zirkulären, zur Grübelei führen kann, die mich nicht weiterbringt?

Ulrike Cress: Das glaube ich auch!

Form A: Und das produktive Denken eben genau diesen Denkvorgängen eine Form geben muss – also zur Formgebung und zur Veräußerung gezwungen ist?

Ulrike Cress: Genau! Auch Irritation zulässt, also produktiv im Sinne auch "Ich bin nicht zufrieden mit dem, was ich weiß oder so was" und ich lasse mich irritieren, ich erkenne, dass mein Erkennen nur halb ist. Und diese Irritation dann auch ein Korrektiv sein kann. Also dieses Kreisen, glaube ich, das ist was, was unser kognitives System auch ausmacht. Aber zu sagen, wir brauchen neue Erfahrungen, wir müssen uns neuen Erfahrungen aussetzen, anderen Meinungen, anderen Situationen, um da auch weiterzukommen, die Perspektive zu öffnen. Und das ist wieder etwas, was ich sehr stark in dieser systemischen Perspektive mitbekomme. Also zu sagen, na ja, als System, als Denksystem kreist man so in sich, hat so seine Welt, ist stabil. Aber die Irritation durch ein anderes System ist das dann, was quasi eine Entwicklung ermöglicht. Und diese Entwicklung ist dann letztendlich ein Denkprozess, also ein Prozess, etwas Neues zu entdecken, etwas Neues auszuprobieren, und dann entsprechend komplexer zu werden in seinem Verstehen.

Form A: Würde das für Sie dann bedeuten, dass das produktive Denken tatsächlich immer auch ein soziales Denken ist?

Ulrike Cress: Ja. Also ich glaube, wir brauchen den Dialog, um uns in Frage zu stellen und ich glaube, die Wahrheit ist zu groß – also "Wahrheit" ist ein großer Begriff – um sie selber zu fassen. Wirklichkeit ist sehr divers – jeder hat andere Erfahrungen, jeder hat andere Sichtweisen – und letztendlich glaube ich, müssen wir die zusammentragen, um wirklich ein volleres Bild zu bekommen.

Form A: Und wie kann man im Sinne dieser Zusammenarbeit sicherstellen, dass sie wirklich gelingt? Also dass nicht die Eingrenzungen, die Eifersüchteleien im Vordergrund stehen, sondern wirklich das Denken sich zusammenträgt.

Ulrike Cress: Also die Erfahrung ist ja, dass viel geredet wird, aber viel einfach auch Schlagabtausch, Argumente-Austausch ist. Ich glaube, damit es wirklich ein Riesenfortschritt gibt, gehört schon dazu, dass man gemeinsam nach dem Wissen sucht oder nach einem Weg sucht. Also wieder mein Beispiel Wikipedia, was ich so faszinierend finde: Wikipedia hat die Situation, dass die Artikel für sich sind und dass die Gespräche über Artikel auf extra Seiten stattfinden. Und ich glaube, das Geheimnis, warum Wikipedia so gut ist, ist, dass diese Metakommunikationen, das "über etwas reden", getrennt wird von der Sache, dass man gemeinsam einen Artikel baut – hier also gemeinsam eine Beschreibung oder eine möglichst objektive Beschreibung von Dingen, nicht diskutiert, sondern macht. Und ich glaube, im Dialog hat man das viel zu selten. Meistens macht man Metakommunikation, man spricht viel – wer macht was, wer macht es wie, wie könnte man es besser machen – aber eigentlich muss man im Produkt selbst, also in der Kommunikation selbst, in der Konstruktion selbst, gemeinsam drangehen. Und dann, glaube ich, hat man die Chance, dass es wirklich ein emergenter Prozess werden kann, wo etwas Neues entsteht.

Form A: Das heißt, welche Rolle würden Sie in dem Zusammenhang den Medien zuordnen? Sie erforschen ja gerade den Zusammenhang von Wissenskonstruktion und Mediennutzung oder haben da einen besonderen Fokus darauf. Es klingt ein bisschen durch, als würden technische Möglichkeiten doch andere, vielleicht produktivere Denkformen dadurch ermöglichen, dass man gemeinsam wirklich an der Sache arbeiten kann. Also gemeinsam an einem Dokument zum Beispiel schreiben kann?

Ulrike Cress: Genau. Also für mich wäre es dieses gemeinsame Schreiben, gemeinsam nicht nur diskutieren – das ist so eine Ebene – aber zu sagen, wir machen gemeinsam ein Produkt oder ein Artefakt. Es kann ja auch ein Künstler sein, zwei Künstler, die gemeinsam was machen oder man macht gemeinsam eine Zeichnung, um so seine Ideen zu sammeln. Aber zu sagen, dieses Wissen, das in den Köpfen der Einzelnen ist, muss irgendwo externalisiert werden, muss irgendwo für den anderen sichtbar sein und dann kann der andere dort weitermachen und fängt nicht immer von vorne an, sondern jeder macht dort weiter, wo der andere ihm was hinterlässt. Und das ist, glaube ich, etwas, was früher natürlich auch möglich war, aber so diese Art von gemeinsamem Schreiben, wird dann doch erst eigentlich jetzt durch die Technologie so leicht. Also, dass man wirklich den Text sieht, den der andere hinterlässt, dass man dort verändern kann. Dass diesem Text nachher gar nicht mehr ansehbar ist, wer hat was getan, sondern das Produkt steht im Vordergrund. Und das ist das, was diesen Konstruktionsprozess auch so effizient werden lässt.

Form A: Geht damit dann das Konzept der Autorschaft verloren?

Ulrike Cress: Geht verloren. Also, würde ich eh sagen. Wissenskonstruktion im Sinne von Kollaboration hat keine individuelle Autorschaft mehr, sondern da sind Ideen, sind Vorstellungen, die vom einen zum anderen weitergehen. Im Internet gibt es immer so den Begriff: "Der Zwerg auf den Schultern von Giganten“. Und das finde ich eigentlich einen sehr schönen Begriff, den das Mittelalter geprägt hat, zu sagen: Na ja, unser Wissen ist nicht nur unser Kopf, sondern wir sitzen schon auf dem Wissen, das andere Generationen hatten. Und unser Wissen oder die Perspektive von uns wird umso größer, wenn wir dieses Wissen der anderen Generation nutzen und da aufsetzen. Und das, glaube ich, ist etwas, das wir in unserer individualisierten Welt Wissen immer sehr stark beim Individuum verorten. Aber eigentlich ist doch ein ganz großer Teil unseres Wissens Erfahrung, die wir irgendwie von der Kultur her mitbekommen und wo wir aufbauen, auf dem, was bereits da ist. Und das wäre für mich auch eine Art von Kollaboration, auch wenn mir nicht bewusst ist, dass das irgendwie Wissen aus dem Mittelalter ist oder so was, aber sie hat die Kultur geprägt und sie hat in vielen Dingen unsere Gesellschaft geprägt und wir setzen dort auf.

Form A: Ist das für Sie ein positiver Prozess, wenn diese Autorschaft dann tatsächlich verlorengeht? Diese Zurechnung von Wissen ist ja auch im Wissenschaftssystem so, wie es bis jetzt funktioniert, meistens noch relativ bedeutsam für die eigene Karriere. Kann man das voneinander entkoppeln und dadurch möglicherweise genauso produktiv oder noch produktiver werden?

Ulrike Cress: In der Psychologie machen wir ja auch sehr viel als Gruppe, wenn man Experimente designet, wenn man gemeinsam über Ergebnisse diskutiert. Da würde ich sagen, eine gute Gruppe bringt Individuen schon weiter. Die guten Ideen, die kreativen Dinge entstehen oft wirklich in der Gruppe. Und dann kann man sich natürlich fragen: Wer ist Autor – wer ist Erstautor von dem Paper oder so etwas. Aber, wenn man ehrlich ist, haben die guten Dinge oft eine lange Vorgeschichte an Diskussionen, Auseinandersetzungen und ich glaube, das zeichnet auch heutzutage gute Wissenschaft aus. Selbst die Philosophie, wo ja der Philosoph doch noch sehr individuell im Turm sitzt. Aber er liest andere, er setzt sich mit anderen auseinander. Und letztendlich ist natürlich jede Idee immer eine Referenz auf vorige oder andere Positionen. Das heißt, dieses Dialogprinzip hat, glaube ich, auch die Geisteswissenschaft, auch wenn die Geisteswissenschaft sehr viel individualistischer denkt.

Form A: Gibt es dann Eingrenzungen in diesen Denkmöglichkeiten, wenn es in der Gruppe stattfindet? Also Foucault hat mal den Begriff der „Diskurspolizei“ geprägt, dass das Denken natürlich durch das soziale Kollektiv eingefriedet wird, in Bahnen geleitet wird und möglicherweise nur gewisse Dinge überhaupt denk- und sagbar werden und andere Dinge nicht gedacht werden können.

Ulrike Cress: Da würde ich sehr stark von dieser systemischen Richtung her sagen: die soziale Gruppe ist nicht einfach wertfrei, sondern ganz im Gegenteil. Da spielt eine ganz große Rolle, was wird geredet, wie wird geredet, wie wird interagiert. Und das kann ein Kontext sein, der sehr wissensfreundlich ist. Es kann aber auch ein Kontext sein, der sehr wissensfeindlich ist. Also, wenn man so die ganze Web-Welt wieder anschaut mit Hetzschriften und so etwas, da würde ich sagen, die Kooperation selber ist noch nicht automatisch eine positive, wissenskonstruierende. Sondern es muss eine Kooperation sein, die wirklich dieses Ziel hat, auch weiterzukommen. Es gibt Wikipedia, wo das Interesse ist, neutral zu sein. Wir interessieren uns in der Forschung aber zum Beispiel auch für Wikis von Nazis, wo das Interesse ein ganz anderes ist und wo man sagen würde, die Gruppe bringt den Nazi auch dazu, dass er konstruktiver ist, aber in seinem Sinne konstruktiv. Das heißt, er wird noch radikaler als vorher. Man muss also sagen, die Gruppe an sich ist nichts Positives, Wissenskonstruktion ist auch nichts Positives – für sich. Aber, wenn wir es schaffen, in einer Gruppe Normen und Regeln zu etablieren, die unserem Verständnis von Wissen entsprechen – also Objektivität, eine möglichst logische Sichtweise – dann würde ich sagen, kann die Gruppe sehr viel leisten.

Form A: Wie sehen Sie dann den Zusammenhang zu Emotionen? Sie sprachen die Objektivität und das Objektivitätspostulat der Wissenschaft an, das ja – so könnte man meinen – wenig Spielraum für Emotionen im Denkprozess lässt. Sehen Sie da irgendwo noch eine Verbindung für sich selber? Wie sehen Sie die Verbindung von Denken und Emotionen? Spielt das ineinander oder ist das vollkommen getrennt?

Ulrike Cress: Die Emotion spielt ins Denken rein. In dem Sinne, so würde ich sagen, dass die Assoziationen, die man hat, gefärbter sind. Wenn wir uns unser Wissen als ein Wissensnetz von Assoziationen vorstellen, dann würde ich sagen, die Emotion macht gewisse Knoten, bringt sie in den Vordergrund oder aktiviert sie oder macht sie stärker. Wenn das dann wirklich ein Denkprozess werden soll, der aus diesem Netz heraus eine Geschichte oder einen Gedanken fasst, dann würde ich sagen, muss diese Emotion irgendwo auch im Denkprozess mit berücksichtigt werden oder mit interpretiert werden oder bewusst werden. Und dann kann es etwas Positives sein. Solange sie quasi unbewusst ist und solange sie einfach diese Netzwerkstruktur irgendwie beeinflusst, würde ich sagen, ist es noch kein Denkprozess, der jetzt wirklich Erkenntnis in diesem Sinne hat. Im wissenschaftlichen Bereich würde ich auch sagen, na ja, da gibt es vielleicht Emotionen weniger, aber natürlich gibt es so etwas wie Bewertungen, wie Wertigkeiten. Also in der Klimadebatte oder so, ist es natürlich legitim zu sagen, das Klima hat die und die Wertigkeit. Und das ist auch eine Art von Emotion, die dann halt in der Gruppe noch mal eine andere Rolle spielt, die aber wichtig wäre offenzulegen und transparent zu machen: Was sind die Wertigkeiten.

Form A: Und auf der Ebene des Selbsterlebens würde man Emotionen vielleicht auch als Motivation interpretieren können oder dort in den Zusammenhang stellen, die dann ja wahrscheinlich doch sehr wichtig für den gesamten Denkprozess ist?

Ulrike Cress: Die diese Dynamik des Denkprozesses noch mal beeinflussen kann. Sie kann es langsamer machen, sie kann dieses Kreisen noch verstärken oder sie kann eher diese Dynamik, die dann zur Kreativität führt oder so was, verstärken. Also da würde ich auch sagen, Emotion ist so eine Art Moderator, die verändert den Denkprozess, lenkt ihn in eine gewisse Richtung.

Form A: Sie sind viel unterwegs, wo können Sie am besten denken, wie sieht Ihre perfekte Denkumgebung aus, die perfekte Denkzeit – gibt es da Präferenzen?

Ulrike Cress: Zum Denken brauche ich schon immer ein Blatt Papier oder noch lieber einen Rechner – das heißt, irgendwas, was diese Gedanken aufschreiben lässt oder Stichworte oder irgendwas, was dieses Externalisieren ermöglicht. Dass man Dinge aufschreiben kann, in eine Reihenfolge bringen kann, in so einen linearen Prozess bringen kann. Ohne das geht bei mir gar nichts, das geht auch handschriftlich nicht, da brauche ich schon die Flexibilität vom Rechner, damit zu spielen. Und ich brauche normalerweise irgendein Rechercheinstrument, also am liebsten das Web oder so was, wo man Dinge schnell nachgucken kann, wo man schnell auch Assoziationen anderer mitbekommt. Im eigenen Rechner, wo man die eigene Literatur hat oder so. Also ich bleibe ungern ganz quasi auf meine eigenen Ressourcen im Kopf beschränkt, ich möchte eigentlich schnell Zugriff auf andere Dinge haben.

Form A: Brauchen Sie dieses Handwerkzeugs sozusagen sowohl zur Strukturierung sicherlich des Denkens aber auch als Inspirationsquelle – dass man eben, was Sie vorhin schon meinten, ja als Zwerg auf den Schultern von Riesen steht. Sprich, man zunächst mal sich mit den Gedanken von anderen auseinandersetzt? Oder, was sind Ihre Inspirationsquellen?

Ulrike Cress: Die Gedanken von anderen, auch zu schauen, haben andere ähnliche Gedanken? Also wirklich sich abzusichern ein Stück weit. Ja, und ein Stück weit einen Überblick zu bekommen, welche Art von Assoziationen könnten eine Rolle spielen bei dem gewissen Thema oder bei irgendetwas, womit man sich beschäftigt. Dinge schnell auch zu verifizieren, nachzugucken, stimmt das, was ich im Kopf habe. Da brauche ich immer so diese externe Ressource, diese Generationen quasi, auf denen man dann als Zwerg auf den Schultern sitzt.

Form A: Und gibt es noch andere Inspirationsquellen, die vielleicht gar nicht mit Denken per se zu tun haben? Musik, Wandern, Natur?

Ulrike Cress: Musik stört mich eher. Was natürlich, glaube ich, bei allen Menschen der Fall ist, ist dass Denken auch nicht erzwungen werden kann. Das heißt, man braucht auch Pausen oder man braucht Momente wo man merkt, jetzt klappt nichts, also lassen wir es und gehen später noch mal dran.

Form A: Und wie gnädig kann man da mit sich selber umgehen, mit diesen Denkpausen, die sicherlich ja jeder Mensch braucht? Kann man da einfach umschalten und sagen, jetzt mache ich was anderes und damit ist das vergessen, womit ich mich gerade beschäftige? Also, wie leicht fällt dieses Abschalten, dieses Umschalten, dieses Einsteigen ins Denken und dieses Aussteigen?

Ulrike Cress: Also es fällt mir relativ leicht. Weil ich auch das Gefühl habe, ich kann es nicht erzwingen. Also ist klar, ich kann natürlich ewig lang vor dem leeren Papier sitzen, aber es bringt dann nichts mehr. Und zu sagen, nein, Denken hat eine Eigendynamik und die akzeptiert man und verlässt sich darauf, dass irgendwann die Sache wieder anspringt. Und das ist, glaube ich, dieses Grundverständnis, man wird irgendwann weiterkommen, das Grundvertrauen muss man quasi haben, das empfinde ich so ein bisschen. Und dann aber auch die Gelassenheit zu sagen, heute kriege ich es nicht hin, vielleicht habe ich morgen eine bessere Idee. Meistens sind es ja auch die Pausen dann, die irgendwo einen weiterkommen lassen. Auf der anderen Seite erlebe ich schon auch, dass Zeitdruck auch positiv sein kann. Also zu sagen, na ja, denken braucht auch so ein bisschen Irritation – Irritation auch im Sinne von: Ich kann nicht nur quasi kreisen lassen, sondern ich brauche irgendwo einen Ausgangspunkt und einen Endpunkt wieder.

Form A: Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Karriere – gab es ein Inauguralerlebnis, einen Schlüsselmoment, von dem Sie sagen würden: Von da an war die Faszination so groß, dass es mich nicht mehr losgelassen hat?

Ulrike Cress: Eigentlich nicht so richtig. Im Psychologiestudium erfährt man natürlich vieles über das Denken. Über Wahrnehmungsprozesse, über Denkprozesse, Problemlöseprozesse. Da fand ich es noch gar nicht so richtig spannend. Was mich wirklich begeistert hat ein Stück weit, waren diese Massenprozesse. Und das verbinde ich schon ein bisschen mit Wikipedia. Der Begriff der „Masse“ ist ja im Deutschen eigentlich sehr negativ belegt. Und zu sagen: Da hat man ein Beispiel – und es gibt glaube ich gar nicht so viele – wo die Masse auch einen positiven Einfluss hat. So erlebe ich auch das Web: da gibt es eine Unmenge an Information, eine Unmenge an Wissen. Kann man das nicht nutzen, um positive Dinge rauszubekommen und um wirklich Wissensfortschritte zu generieren? Und deswegen vielleicht auch so dieses Web als Recherchetool für mich, zu sagen, na ja, diese Basis, die hilft und die ist eine gewisse Absicherung.

Form A: Ihre Arbeitsgruppe beschäftigt sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema der Wissenskonstruktion. Wie vielfältig sind Ihrer Einschätzung nach die Wege zum Wissen, wie vielfältig sind die Wissens- und Denkformen der Menschen, wie unterschiedlich die Denk- und Lernkonstellationen?

Ulrike Cress: Also gut, wir sehen ja nie rein in Personen, wie unterschiedlich die denken. Ich würde sagen, damit es in der Kollaboration produktiv wird, braucht man eigentlich schon verschiedene Situationen, verschiedene Perspektive. Also die Heterogenität ist mir eigentlich immer relativ wichtig. Zu sagen, Denken wird dann produktiv, wenn man nicht nur Personen hat, die alle gleich denken, so diese Boundary-Spanner-Idee, auch zu sagen, es gibt so Netzwerke, es gibt Inhaltsbereiche, Domänen und eigentlich braucht man Leute, die da dazwischenstehen, die was Neues von der einen Disziplin in die andere reinbringen. Und das hat weniger damit zu tun, dass Personen unterschiedlich denken, aber dass sie unterschiedlich sozialisiert sind in Disziplinen, in der Denkweise. Und dass diese Sozialisierung einerseits eine Expertise bringt, die wichtig ist. Aber andererseits ins Gespräch gebracht werden muss, damit es wirklich zu einem Austausch kommen kann. Und zu einer Irritation.

Form A: Wie gut funktioniert Ihrer Wahrnehmung nach das Konzept der Interdisziplinarität?

Ulrike Cress: Ist extrem schwierig. Natürlich ist es für einen Geisteswissenschaftler mit seiner Prägung ganz schwierig, jetzt mit empirischer Forschung oder so ins Gespräch zu bringen. Aber ich erlebe das eigentlich schon als die spannenden Themen, die weiterbringen. Zu fragen, wie wir denn verschiedene Welten zusammen bringen. Was können wir da für Fragestellungen entdecken, die beide interessieren? Also für mich sind diese Kooperationen eigentlich die spannendsten.

Form A: Wenn Sie also sagen, es gäbe zwischen der empirischen Psychologie und der Philosophie durchaus Berührungspunkte, die ja beide sich auch dem Thema Denkprozessen widmen, die Philosophie eigentlich zweieinhalbtausend Jahre das als ihre eigene Domäne hatte und dann ein Stück weit von der empirischen Psychologie…//

Ulrike Cress: Also ich selber habe das so ein bisschen entdeckt über Luhmann als Soziologen. Luhmann ist ja extrem unempirisch, würde sich, glaube ich, im Grabe rumdrehen, wenn er wüsste, dass wir versuchen dieses Thema ein Stück weit empirisch zu behandeln. Aber ich erlebe diese soziologische Richtung als eine extreme Bereicherung für mein Denken. Einerseits, weil es was Fremdes ist, was natürlich auch immer was Fremdes hat und man will sich da reindenken. Auf der anderen Seite, weil ich auch viele Parallelen erkenne. Und das ist das, was für mich die Beschäftigung eigentlich spannend macht. Aus dem eigenen Bereich mal rauszugucken und Verknüpfungen zu schaffen.

Form A: Das hieße ja dann, die Inspiration würde in dem Fall auf der konzeptionellen Ebene stattfinden. In den Ideen, wie man Wirklichkeit beschreiben kann.

Ulrike Cress: Genau.

Form A: Geht man von den verschriftlichen Erkenntnissen der Wissenschaft aus, dann erscheint das wissenschaftliche Denken eigentlich ja extrem rational, gut strukturiert und logisch. Wie zutreffend sehen Sie ein solches Bild für die Beschreibung des menschlichen Denkens und wie erleben Sie sich selbst beim Denken. Kann man irgendwie Denkvorgänge beschreiben, haben wir eigene Formen, wie sie sich für einen selber anfühlen?

Ulrike Cress: Vielleicht noch mal ein Beispiel: Von der Philosophie gefällt immer sehr gut dieser Begriff von Spencer-Brown, der „Unmarked Space“, also zu sagen, na ja, es gibt eine Welt außerhalb von mir, die in dem Augenblick, wo ich nicht darüber nachdenke, auch einfach unmarkiert ist – so wie eine schwarze Finsternis. Da kann ganz viel passieren oder ein extremes Chaos herrschen, aber ich muss sie markieren, ich muss irgendwo meine Aufmerksamkeit darauf richten, über sie nachdenken und dann wird es etwas, was sich entwickelt und wo Gedankenvorgänge quasi einen Weg ziehen über diesen Unmarked Space. Also der wird zum Gegenstand des eigenen Verständnisses und erweitert damit das eigene Verständnis. Das ist für mich so was, was ich individuell ganz gut nachvollziehen kann, zu sagen, na ja, Denken heißt, diesen Unmarked Space ein Stück weit zu beleuchten oder so Markierungen zu setzen und von den Markierungen dann ausgehend zu überlegen, passt das zusammen, kriegt man da irgendeine Struktur rein, kriegt man Muster rein. Und sich aber immer bewusst zu machen: der Umarked Space ist eigentlich viel, viel größer. Also die Wirklichkeit ist viel größer als das, was ich dann in meinem Denkvorgang wirklich markierend erlebe. Und es bleibt immer ein konstruktiver Akt, es bleibt immer eine subjektive Auseinandersetzung mit diesem großen, großen, dunklen Raum ist, der eigentlich unmarkiert bleibt.

Form A: Und diese Markierungen, wo würden Sie die verorten auf der Wahrnehmungsebene oder auf der Denkebene? Also sind das Beobachtungen, Bilder, ist das Sprache?

Ulrike Cress: Alles! Alles, was bei uns ins Bewusstsein kommt. Also es kann sein, der andere benennt etwas, es kann sein, es kommt im Fernsehen irgendwas, es kann sein, ich als Mensch, also als denkendes System denke über was nach. Aber alles, was irgendwie die Aufmerksamkeit auf sich zieht oder wo ich als Mensch meine Aufmerksamkeit drauf lege.

Form A: Und wie erleben Sie den eigenen Denkprozess? Kann man da eine Metapher für finden? Ist man da in einem Tunnel drin? Gibt es dafür eine Beschreibung?

Ulrike Cress: Also Denkprozess hat für mich immer etwas mit "Weg machen" zu tun. Also so eine Schneise im Urwald schlagen oder auch diesen markierten Space in ein Muster pressen, das dann in irgendeine Geschichte oder in irgendeine Struktur geht. Für mich heißt Denken, wenn es zu einem Ergebnis führt. Dass man letztendlich auch eine Geschichte erzählen kann oder ein Argument oder was. Also nicht nur eine Mindmap hätte oder so was, wo man sagt, das sind so Begriffe, die irgendwie zusammenhängen, sondern wo man was hat, das nachher irgendwo anfängt und irgendwo aufhört. Und etwas ist, was man anderen kommunizieren kann und die können sich dann dazu äußern und sagen ja oder nein.

Form A: Linearität und Folgerichtigkeit, wären das dann Aspekte?

Ulrike Cress: Genau! Und da können wir natürlich sagen, ist die Rationalität dann da drin? Oder die Logik? Und natürlich gelingt es auch selten. Also diese Denkprozesse, die dann wirklich so enden, dass man diese Geschichte erzählen kann, passieren ja eigentlich relativ selten. Aber das wäre für mich eigentlich das, was das Ziel wäre. Und vorher bleibt so ein bisschen Intuition oder es bleibt so ein bisschen Assoziationen, aber es ist noch kein vermittelbarer Denkprozess.

 

Form A: Wie tritt dann das Denken in die Welt hinaus, wenn es so strukturiert ist? Also wie sehen Sie den Zusammenhang von Denken und Handeln? Ist der wichtig oder ist man als Wissenschaftler ausschließlich der Seite des Denkens verschrieben?

Ulrike Cress: Das Denken benennbar machen. Also natürlich muss ich es irgendwo externalisieren, es muss aufgeschrieben sein, es muss sichtbar sein, es muss verständlich sein. Und dann glaube ich im Dialog kann schon, oder sollte was passieren, dass dieses Denken letztendlich auch handelt und sich beeinflusst. Also da würde ich gar nicht so ganz stark trennen. Aber in der Wissenskonstruktion würde ich sagen, ist ja ein sozialer Akt schon inbegriffen und damit ist Handeln auch nicht so ganz weit.

Form A: Wie kann man sich so einen Denkprozess oder wenn Sie eine Aufgabe vor sich haben, ein Problem vor sich haben, wie kann man sich das vorstellen? Gibt es da einen gewissen Ablauf, nach dem Sie immer vorgehen, um Denkaufgaben zu lösen?

Ulrike Cress: Ich würde immer assoziativ anfangen. Also was fällt mir ein, wo sehe ich so erste Verbindungen. Und dann schon die Suche, was finde ich in der Literatur – also Forschungsliteratur – oder bei Kollegen. Da ein Stück weit eine Inspiration holen und dann würde ich aber sagen, brauche ich immer den Weg, dass genau diese Linearität kommt. Also, dass ich anfangen kann, das aufzuschreiben: Gibt es einen roten Faden, wie kriege ich die einzelnen Bereiche unter. Und da würde ich sagen, bin ich normalerweise so, dass ich sehr bald anfange, in so einen Schreibprozess zu gehen oder eine Grafik zu malen, um zu sehen, kriege ich da die unterschiedlichen Einheiten unter. Und wenn es dann gut läuft, kommt eigentlich so eine kollaborative Phase, zu sagen, ich schicke das mal einem Kollegen und dann guckt der mal, wie geht der damit um. Ist das, was da geschrieben ist, logisch oder kommen da neue Ideen rein? Und dann kommt normalerweise so eine kollaborative Phase ganz von allein.

Form A: Es gibt einmal den Findungsprozess von Erkenntnis, dann gibt es natürlich für Sie als Professorin auch den Vermittlungsprozess von Erkenntnis, was ja auch ein Handlungsaspekt wäre, der Transfer sozusagen, in der Lehre zum Beispiel. Wie wichtig ist es da für Sie, ein gewisses Gefühl der Sättigung, der Durchdringung eines Stoffes zu haben als Voraussetzung dafür, auch Wissen weitergeben zu können? Braucht man dieses Gefühl, diese Sicherheit ein Stück weit oder geht es auch ohne?

Ulrike Cress: Ich würde es nicht als subjektive Sicherheit sehen, aber ich würde sagen, um vermittelbar zu sein, brauche ich wieder immer das Gleiche, diese Linearität, diese Geschichte. Also ich muss das Wissen so parat haben, dass es verpackbar wird, verstehbar für andere und das hat natürlich etwas mit Sättigung zu tun. Also die Geschichte habe ich erst, wenn ich selber was verstanden habe, wenn ich selber mir eine Meinung gebildet habe. Insofern würde ich sagen, da geht es weniger um die subjektive Sicherheit als darum, dass dieses ungeordnete Wissen im Kopf nicht ausreicht, um es zu vermitteln, sondern ich muss es bei mir geordnet haben und dann wird es vermittelbar.

Form A: Welche Rolle spielen – damit befassen Sie sich ja auch viel in der Forschung – Medien in diesem Prozess? „Digitale Lehre“ und „digitales Lernen“ als Stichwort. Wie sehr können die Medien diesen Vermittlungsprozess unterstützen?

Ulrike Cress: Die können viel, weil sie einerseits viel verschriftlichen können. Man kann zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Dingen irgendwo weiterschreiben, man kann Dinge zusammenbauen. Aber man kann durch Digitalisierung natürlich auch synchrone Elemente einbauen, Elemente von Begegnung mit anderen. Da sind ganz viele Kommunikationsformen möglich mit verschiedenen Personen in verschiedenen Zeitdimensionen, mit verschiedenen Artefakten und das ist etwas, was dieser Wissenskonstruktion sehr nahekommt. Man kann gemeinsam Graphiken malen, man kann sich kurz über Skype auseinandersetzen: Das sind ja alles so Kanäle, die es ermöglichen, in dem Moment, in dem man Kontakt braucht, Kontakte herzustellen zwischen Personen, zwischen Ressourcen, selbst Ressourcen zu generieren mit anderen.

Form A: Sind Medien in dem Sinne als Erweiterung des Arbeitsgedächtnisses oder auch der Leistungsfähigkeit von Menschen ein Stück weit zu denken?

Ulrike Cress: Ja. Aber auch wirklich Kanäle zwischen Personen, Kanäle zwischen Ressourcen. Also insofern eine Erweiterung nicht nur von Arbeitsgedächtnis, sondern von jeglicher Struktur, die Ressourcen reinbringt, die Verknüpfungen schafft, die Begegnung schafft.

Form A: Denken wird ja klassisch immer mit dem Individuum verbunden, ist klar als individueller Akt gekennzeichnet. In Bezug auf Wikipedia haben Sie schon angesprochen, dass es allerdings Kollaborationen gibt, die zur Wissensproduktion führen. Und im Sinne der Wissenskonstruktion: Wir denken ja vielleicht auch sozial. Also würden Sie sagen, kann ein Kollektiv denken oder ist das immer auf das Individuum zurückzuführen?

Ulrike Cress: Ich würde sagen, das Kollektiv denkt immer. Und zu sagen, dort, wo eine Gruppe entsteht, die gewisse Regeln für Wahrheit hat, regelmäßig kommuniziert, denkt dieses Kollektiv. Also wenn Sie eine Selbsthilfegruppe haben von Depressiven oder so und die unterhalten sich miteinander, würde ich sagen, entsteht natürlich da eine Art von gemeinsamen Denken, eine Art von Wissenskonstruktion, die aber einfach die eigene Wirklichkeit oder die eigenen Regeln bestimmt. Und das ist bei einer Selbsthilfegruppe in der Depression was ganz Anderes, was da als Kommunikationsinhalt entstehen wird als bei einer Ärztegruppe oder wenn der Arzt mit seinem Patienten kooperiert. Das heißt, eigentlich entsteht in der Gruppe eine eigene Art von Auseinandersetzung mit Realität, von Kommunikation und die ist immer auf die Gruppe bezogen. Und dort gibt es quasi Probleme oder dort gibt es eine Irritation, wo man sagen kann, diese Gruppe, das Individuum in der Gruppe stößt jetzt auf eine ganz andere Gruppe. Also wir machen zum Beispiel sehr viel auch zur Arzt-Patientenkommunikation, wo ich sagen würde, der Patient ist in seiner Individualsicht mit einem eigenen Weltbild, mit einer eigenen Erkenntnis ausgestattet und wird so konfrontiert mit einer Weltsicht, die aus einer ganz anderen Richtung kommt. Nämlich der Arzt, der gewohnt ist, wissenschaftlich zu denken, der eine andere Begrifflichkeit hat. Und dort geschieht quasi eine Irritation, die so groß sein kann, dass die Kommunikation zwischen beiden Gruppen einfach nicht funktioniert, aufhört. Dann würde ich sagen, ist es kein konstruktiver Akt. Wenn das zu etwas führt, wo der Patient dann vom Wissen des Arztes partizipieren kann, was für sich mitnimmt oder der Arzt über den Patienten erfährt: „Ah, da gibt es ja noch eine Ebene, die ich bisher gar nicht kenne", dann ist diese Wissenskonstruktion erfolgreich. Das heißt, die „Gruppe“ – und wenn ich hier Gruppe meine, steht der Arzt für dieses medizinische Wissen. Dann ist quasi der Arzt wieder der, der als Zwerg auf dieser Wissenshistorie der ganzen Medizin aufsitzt. Da würde ich immer sagen, als Individuum denke ich immer in der Tradition der Gruppe – wie ich sozialisiert bin, über Familie, aber ganz stark auch über Ausbildung. Und dieses Gruppendenken wird mich als Individuum extrem beeinflussen. Und ich kann mal in der Rolle sein des Wissenschaftlers, des Arztes, kann gleichzeitig in der Rolle sein des Patienten, dann kommen zwei so verschiedene Gruppendenken zusammen. Das heißt, auch im Individuum kann diese denkende Gruppe quasi in Auseinandersetzung treten oder konfrontiert werden mit zwei verschiedenen Bereichen.

Form A: Sie sprechen davon, dass eigene Wissenssysteme auftauchen, emergieren können, im Individuum selbst durch Sozialisation vorhanden sind als Gruppeninhalte von Wissen, in Gruppen neu geprägt werden können, ausgetauscht werden können. Was sind die Faktoren, damit diese Austauschprozesse zwischen diesen vielleicht ja erst mal isolierten Wissenssystemen überhaupt funktionieren können? Sind das Normen, die das wahrscheinlicher machen, sind das mediale Austauschformen, die es wahrscheinlicher machen, sind es möglicherweise gewissen Sprachformen, die diesen Austauschprozess modellieren können? Oder wie kann das gelingen, dass sich diese Systeme verbinden?

Ulrike Cress: Das war jetzt von Ihnen sehr schön formuliert, so wie ich diese Gruppendenksysteme im Individuum auch verorten würde. Und ich würde sagen, zum einen, dass in Austausch geraten heißt, es muss irgendeinen Bedarf geben. Also wenn ich merke, ich komme mit meiner einen Identität oder der einen Denke nicht mehr weiter, ich brauche die andere Gruppe. Es kann sein, es gibt diese Irritation, dass es irgendeine Situation gibt, wo man sagt, beides steht in Konkurrenz zueinander, es muss irgendwie ausgeglichen werden. Und dann würde ich sagen, brauche ich eine Form, die diese Kommunikation ermöglicht. Also das kann wiederum medial sein, das kann ein verbaler Austausch sein, ein Kontakt, ein sozialer. Aber zu sagen, dass diese Kommunikation gelingt, ist alles andere als normal. Also ich brauche einheitliche Sprache oder ich brauche ein Verstehen dessen, was der andere als Hintergrund hat, wieso der andere wie denkt. Da ist ganz viel an gegenseitigem Verstehen, an Metawissen in diesem Dialog, dass der funktionieren kann. Oder an Situationen, die eine gemeinsame Sprache einfach erleichtert. Aber wir erleben es ja ganz, ganz häufig, dass gerade die Wissenskonstruktion nicht stattfindet, wenn man an Koalitionsverhandlungen denkt, wenn man an verschiedene Parteien oder so was denkt. Es findet ja ganz selten diese Konstruktion statt, wo es wirklich zu einer Weiterführung kommt. Und meistens ist es ja wirklich dieser Austausch von Argumenten, dieses auch Niederbügeln oder das Eigene-Argument-Verkaufen-Wollen. Aber wirklich die Situation, wo man dann auf Inhalte des anderen eingeht, die auch mitlernt, also auch neue Aspekte für sich entdeckt, die sind, würde ich sagen, wirklich selten. Und die haben viele Barrieren, die bei Sprache anfangen, bei Motivation, überhaupt mal weitergehen zu wollen, gemeinsam was machen zu wollen, andere zu verstehen, den Hintergrund zu verstehen und so weiter.

Form A: In Diskussionen hat man ja auch oft den Eindruck, dass die Selbstbehauptung fast zentraler ist, als die Behauptung selbst.

Ulrike Cress: Genau.

Form A: Anscheinend gibt es da ja große Bedenken des einzelnen, sich zu offenbaren oder möglicherweise anzuerkennen, dass er irgendetwas nicht weiß. Warum ist das so eng miteinander verknüpft, Wissen zu haben, mit der eigenen Identität. Warum fällt es so schwer, Positionen aufzugeben?

Ulrike Cress: Gut, ich glaube dazu trägt schon der Begriff bei: Wissen. Wissen definiert ja so einen Zustand: "Ich weiß ganz viel." Während Denken für mich immer eher so eine Dynamik ist. Also Denken heißt: was weiß ich jetzt und wohin will ich? Und da würde ich sagen, wenn es um Denk- und Erkenntnisprozesse geht, sind wir, glaube ich, viel offener im Dialog, Wissenskonstruktion zu beschreiben, als wenn es um Wissensprozesse geht. Wissensprozesse heißt: "Ich will zeigen, ich weiß was." Und dann kommen die Argumente, wo man halt Argumente austauscht oder zeigt, wie viel man weiß, aber eigentlich nicht an der Erkenntnis interessiert ist. Und das ist, glaube ich, auch was, was relativ selten vermittelt wird, dass es um Erkenntnis geht. Das heißt, wo es selbstverständlich ist, dass man noch nicht alles weiß, sonst bräuchte man nicht mehr erkennen. Und Wissenskonstruktion lebt von solchen Situationen, die generiert werden, wo wir uns bewusst sind, wir wissen noch nicht das, was wir später erreichen wollen, das ist noch ein Problemlöseprozess, auf dessen Weg man sich macht.

 

Form A: Das heißt, man braucht eigentlich eine Kultur der Fehlertoleranz, was dieses Denken angeht.

Ulrike Cress: Genau. Fehlertoleranz, auch Bewusstsein, dass das, was ich weiß, noch unzureichend ist. Das gefällt mir so an der Wissenschaftsidee oder der Popper'schen Idee, zu sagen, unser Wissen ist immer vorläufig, das muss immer validiert werden, das kann morgen ganz anders aussehen. Also zu sagen, Denken ist etwas, was sich verändert, Erkenntnis, was sich verändert. Und das heißt auch, es ist nicht peinlich, etwas nicht zu wissen, sondern man muss gemeinsam gucken, wo erweitert man den Horizont.

Form A: Die Digitalisierung ist ja sozusagen ein gesellschaftlicher Megaumbruchstrend, der sich nicht auf einzelne Bereiche beschränkt, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft: die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Politik – alle Systeme verändern sich eigentlich durch die Digitalisierung. Und das in einem so rasanten Tempo, dass für viele eigentlich nicht absehbar ist, wie sich das eigene System, in dem man sich bewegt, in wenigen Jahren verhalten wird, wie es aussehen wird. Schafft dieser Transformationsdruck, dieser technische, dem wir gegenüberstehen, vielleicht auch wieder ein neues Klima des Austausches, der Toleranz? Zumindest beobachtet man ja, dass viele Formate entstehen, die sozusagen Austauschformate sind, wo erstmal das gemeinsame Denken, das offene Denken im Vordergrund steht.

Ulrike Cress: Das war ja auch ein bisschen die Web-2.0-Welt, wo man dann mit Blick auf den Arabischen Frühling beispielsweise sagte, da gibt es jetzt die Blogs, jeder kann mitdiskutieren, partizipieren, es wird demokratischer. Wir erleben ja aber auch genau das Gegenteil, wir erleben diese Filterblasen und die Situation, dass die Diskussionen härter werden. Insofern bin ich mir nicht sicher, ob die Digitalisierung selber den Horizont erweitert oder ob sie uns auch überfordert und dann man eigentlich doch in den kleinen Wissensbereich zurückgeht. Ich glaube, man muss Gelegenheiten schaffen, die diese Digitalisierung in einer Weise nutzen, dass so eine Irritation positiv stattfinden kann. Also wenn man Foren hat, wo die AfD für sich diskutiert und die anderen Parteien, dann ist es sicher schädlich, diese ganzen Kanäle zu haben. Wenn man Foren findet, wo es irgendwo eine Gemeinsamkeit gibt, einen Austausch gibt, dann würde ich sagen, hat die Digitalisierung wieder Potenziale. Und da macht man sich, glaube ich, noch zu wenig Gedanken. Also es geht immer nur um die Technik und es geht ganz stark darum, wie kann man sie nutzbar machen für irgendwelche Einzelprozesse. Aber zu sagen, die Wissenskonstruktion erfordert eine Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Wissensstände oder unterschiedlichen Perspektiven und wie kriegt man diese Diskussion über die Digitalisierung in eine Breite, in eine Effizienz rein? Da gibt es noch relativ wenig Überlegungen.

Form A: Überforderung vielleicht als Stichwort: Sehen Sie da auch Gefahren von Digitalisierung, möglicherweise auch von Pluralisierung von Weltvorstellungen, die jetzt ein Medium gefunden haben, in dem sie sich ausdrücken können, während man in der historischen Situation ja vorher einen relativ überschaubaren Medienmarkt mit wenigen Playern und sehr gut kanalisierten Meinungen hatte?

Ulrike Cress: Ja, also es wird sicher sehr viel weniger durchschaubar für Laien. Man erlebt es ja selber, wenn man in Bereichen recherchiert, wo man selbst kein Experte ist; wie soll man entscheiden, was eine gute Quelle ist, was eine schlechte Quelle ist. Und auf einmal hat man Zugang zu allem Möglichen, was früher schon viel gefilterter war und sehr viel bewerteter. Also da würde ich schon sagen, sie überfordert uns ganz leicht. Auf der anderen Seite schafft sie natürlich Potenziale; man möchte nicht mehr zurückgehen und sagen, es gibt nur noch die Bücher – so wie es das früher gab. Also auch hier ist beides, eben auch ein riesiges Potenzial. Aber es ist, glaube ich, eine Illusion zu sagen, dieses Potenzial kann man nutzen. Sondern da braucht man eigentlich wieder Tools oder Überlegungen, wie kann man diese Dinge aggregieren, wie kann man es für sich irgendwie nutzbar machen.

Form A: Wissenskonstruktionsprozesse erhalten ja durch Technik vielleicht noch mal eine neue Dynamik. Künstliche Intelligenz ist auch so ein Stichwort in dem Fall. Maschinen stellen ja plötzlich Erkenntnisse zusammen, beziehungsweise fangen an – maschinelles Lernen – vielleicht auch selbst Erkenntnisse zu generieren. Haben wir mit dem Computer einen dritten Player bei der Wissenskonstruktion oder beim Denken bekommen?

Ulrike Cress: Das glaube ich, ja. Also ich glaube, die künstliche Intelligenz kann so Muster erkennen. Ist ja eigentlich im Prinzip das Gleiche, was unser Gehirn macht. Da werden Assoziationen gebildet und aus diesen Assoziationen werden irgendwann einmal Repräsentationen oder irgendwas, was Bedeutung bekommt. Ich glaube, der Unterschied ist schon, dass die künstliche Intelligenz, keinen Gedanken oder keine Erkenntnis fassen muss in der Weise, dass sie erklärbar wird – wieso hat sie den Gedanken? Also es wird ja auch jetzt sehr stark kritisiert zum Beispiel, dass die künstliche Intelligenz hervorragend – besser als Ärzte zum Beispiel – irgendwelche Diagnosen stellen kann, aber wie sie zu den Diagnosen kommt, ist nicht kommunizierbar. Das heißt, das kann der Arzt glauben oder nicht, das kann der Patient glauben oder nicht, aber er weiß nicht, was sind die Grundlagen, auf Grund derer die Maschine entscheidet. Und da würde ich sagen, das ist natürlich das, was Kommunikationsfähigkeit auch erst ausmacht. Was die maschinelle Intelligenz im Augenblick zumindest nicht hat. Sie hat eine Mustererkennung, sie mag auch in die Richtung intelligenter sein, besser Muster erkennen als wir, umfassender. Aber, es ist nicht kommunizierbar und damit eigentlich kein richtiger Player in dieser Wissenskonstruktion, die ja schon erfordert, dass man diese Erklärbarkeit, diese argumentative Stärke noch mitberücksichtigen kann.

Form A: Müssen wir uns dann zukünftig mit diesem Wissen der Maschinen auseinandersetzen, also das, was wir selbst hervorgerufen haben, wieder neu lernen zu verstehen, indem wir retrospektiv die Prozesse uns wieder erschließen, mit denen Computer zu ihren Erkenntnissen gekommen sind?

Ulrike Cress: Das kann eine Zukunft sein, dass man sagt, die maschinelle Intelligenz wird genutzt, um die maschinelle Intelligenz zu verstehen und zurückzuübersetzen zu uns. Und das andere ist eine Art auch wieder von Irritation: die Maschine kann zu einem Ergebnis kommen, das wir schlecht finden, wo wir uns wundern, aber sie irritiert uns wiederum in unserem Denken und mag uns in unserem Denken weiterbringen. Also da würde ich sagen, ist sie nicht als Gefahr zu sehen, sondern als eine Ausweitung, die aber nicht für sich schon einen Anspruch hat, irgendwo besser zu sein, umfassender zu sein, sondern die unser Denken wieder beeinflussen kann, irritieren kann. Aber wir in unserem Denken müssen eigentlich diese Wissenskonstruktion betreiben. Die betreibt die Maschine zumindest nicht in dem Sinn, in dem ich sie als positiv erlebe, nämlich verschiedene Perspektiven zusammenzubringen und gemeinsam eine Konstruktion zu betreiben.

Form A: Dann würde ich abschließend noch einfach mal fragen: In der Vergangenheit, welches Buch hat sie besonders inspiriert, was hat Sie als Denkerin besonders geprägt beziehungsweise Ihr Denken beflügelt?

Ulrike Cress: Also was ich sehr spannend fand, war Maturana zu lesen, ein Biologe, Systemtheoretiker, der so ein bisschen zeigt, dass Denken eigentlich keine zielgerichtete Sache ist – oder überhaupt Leben –, sondern dass es immer ist, dass man als Individuum irgendwie driftet – den Blickwinkel finde ich sehr schön – man driftet so in seiner Umgebung, in seinem Unmarked Space oder so was, und richtet sich so in seiner Nische ein. Denkt dann, interpretiert die Welt, die man so in seiner Nische erlebt. Und es braucht eigentlich diese Art von Irritation, diese Art von Veränderung, wo auf einmal die Umwelt ganz anders wird, dass man aus dieser Nische rauskommt, driftet und sich wieder neue Dinge erschließen kann. Das fand ich irgendwie sehr schön, zu sagen, Erkenntnis ist nicht einfach ein Prozess, der so zielgerichtet vom Schlechteren zum Besseren ist, sondern zu sagen, na ja, wir sind auch ein bisschen faul. Also wir lassen uns so treiben, richten uns irgendwo ein, Denken heißt, ich komme mit meiner Umgebung zurecht. Und dann braucht es irgendeine Art von Umgebungsveränderung, Irritation, die mich irgendwie weiterbringt und den nächsten Drift einleitet. Und zu sagen, ich muss mir dann als Individuum, wenn ich mich entwickeln will, diese andere Umgebung suchen oder schaffen oder mich darauf einlassen. Also es ist natürlich bequem, in seiner Umgebung zu bleiben oder nur zu driften. Aber zu sagen, nein, das braucht mehr! Und Maturana als Biologe, würde das alles noch mal ganz anders beschreiben, hat ja auch eine andere Absicht dahinter, aber ich fand das irgendwie schön als Bild, was so uns als denkende Wesen kennzeichnet, dieses Driften, dieses offen sein auch, positiv gedacht und gleichzeitig sich so in seiner Umwelt, in seiner Nische einleben und dort sich selber auf diese Nische auszurichten.

Form A: Hat Denken dann für Sie eher etwas Spielerisches in der Auseinandersetzung mit der Umwelt oder wie Popper es sagt, ist es doch eher problemlösend? Also fangen wir erst an zu denken, wenn wir müssen, wenn wir vor Problemen stehen?

Ulrike Cress: Für mich ist es beides. Also bei Problemen ist es klar, dann muss ich anfangen, dann ist diese Irritation, das Problem da, ich muss darauf reagieren. Das Spielerische kommt mir aber auch sehr entgegen, zu sagen, Denken ist auch, an die Grenzen gehen, ausprobieren, wie weit komme ich damit, andere Wege zu gehen. Ich glaube, beide Denkarten sind extrem wichtig.

Form A: Und gibt es da Grenzen des Denkens, gerade auch in der Komplexität des Denkens, mit der man in der Wissenschaft konfrontiert ist, dass das Spielerische da durch den Voraussetzungsreichtum dann auch verloren geht oder wirkt das immer wieder beflügelnd auf Sie?

Ulrike Cress: Also ich würde sagen, das braucht immer einen spielerischen Anteil. Weil Denken ist ja etwas Hypothetisches, also etwas, das damit umgeht, dass es nicht nur Realität prüfen oder Realität ist, sondern dass es auch so ein bisschen voraus ist. Und das finde ich eigentlich das, was Denken auch ausmacht. Dass es nicht nur an Materielles gebunden ist oder an Begrenzungen gebunden ist, sondern eigentlich darüber hinausgeht. Das ist für mich auch das Spielerische, dass man sich anregen lässt von irgendwas, was vielleicht gar keine Beziehung zu dem hat, was es dann letztendlich beeinflusst und macht.

Form A: Denken sozusagen damit auch als freiheitsstiftender Akt? Weil man Beziehungen zwischen Dingen herstellen kann, die in der materiellen Welt nicht möglich sind?

Ulrike Cress: Ja – und wirklich weg von der materiellen Welt. Also eigene Gedankenspiele oder eine andere Dimension, ein bisschen über der Materie, eine Dimension, die theoretische, logische Bezüge schafft. Also spielerisch hieße für mich nicht automatisch "nicht logisch", im Gegenteil. Einfach ein Ausprobieren, wie weit kommt man mit den Regeln dieser Logik, die man hat oder mit den Regeln, mit der Erkenntnis, die man bisher hat.

Form A: Vielen Dank Frau Cress, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch

Redaktionell leicht bearbeitet und ergänzt.

Biografie

Ulrike Cress studierte Psychologie an der Universität Tübingen (Diplom
1993), promovierte dort 2000 zum Thema "Selbstgesteuertes Lernen" und habilitierte sich für Psychologie (2006) mit dem Thema "Das Informationsaustausch-Dilemma". Seit 2008 ist sie Professorin an der Universität Tübingen im Fachbereich Psychologie und Leiterin der
Arbeitsgruppe Wissenskonstruktion am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM), das sie seit 2017 leitet. Ihre Forschung beschäftigt sich mit Wissensprozessen mit digitalen Medien. Insbesondere interessiert sie, wie Menschen gemeinsam Wissen konstruieren und unter welchen Bedingungen Massenkollaboration zu der Generierung von neuem Wissen führt. Seit dem 01.07.2018 ist Ulrike Cress stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung.

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